Künstlergruppe Bonn
Gedanken zur Kunst
ALEATORIK
Aleatorik © Corinna Heumann 2021
Aleatorik und Reimagination als Prinzipien künstlerischer Schaffensprozesse
Von Corinna Heumann
Aleatorik oder das Spiel mit dem Zufall hat weder mit Wahrscheinlichkeitsrechnung, noch mit der Spieletheorie zu tun, sondern etabliert sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend als kreative Technik. Als eine Methode, in bisher unbekannte Imaginationsräume vorzudringen, wird sie in der bildenden Kunst erstmals vor 100 Jahren im Dadaismus und Surrealismus systematisch angewandt. Zufällige Ereignisse in der sichtbaren Realität gelten als Ausgangspunkt des Erforschens nicht sichtbarer Welten, wie derjenigen der Träume und der menschlichen Psyche.
Happening
Mit bewußt herbeigeführten spontanen Aktionen, den sogenannten Happenings, werden möglichst überraschende Sinnzusammenhänge produziert. Anhand ihrer Interpretationen dringt man in unbewußt Erlebtes ein. Beobachtungsgabe und Sinne werden geschärft. Mögliche Verbindungen zwischen den Erfahrungsebenen werden ausgelotet. Daraus entwickelt sich eine Arbeitsweise, kreative Prozesse nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch in Musik und Literatur spontan zu erzeugen. Das Publikum ist aktiver Teil der Aktion, anstelle des passiven Nutzers oder Konsumenten. Überraschungsmomente werden thematisiert, um erstarrte Denkstrukturen zu überwinden und zu integrieren.
Gott würfelt nicht
Bildnerisch handelt es sich im Spiel mit dem Zufall einerseits um den berühmten, auf der Leinwand ausgekippten Eimer Farbe, andrerseits aber auch um das Strukturieren und Einordnen der damit verbundenen Assoziationen. Zufall und Struktur gleichermaßen setzen sich zu einem Werk oder zuweilen zu einem Weltbild zusammen. Das aleatorische Spiel greift das menschliche Bedürfnis nach Mustern, Ordnung und einem Fixpunkt in einer Welt auf, die meist als ein sich ständig veränderndes Chaos empfunden wird. Gott würfelt nicht, stellte der Schöpfer der Relativitätstheorie einst fest und schloss damit den Zufall in der Physik aus. Kollegen widersprachen Einsteins deterministischem Ansatz. Diese Diskussion ist heute so spannend wie damals.
Determinismus
Deterministische Denkweisen führen in der Kunst in Sackgassen – im Leben ebenfalls. Ihre starren Gesetzmäßigkeiten werden durch kreative Prozesse immer wieder in Frage gestellt. Ideen, neue Lebensformen und alternative Sichtweisen entstehen meist unvermutet. Sie können weder berechnet, noch errechnet werden. Kunst entsteht nur durch Verknüpfungen von Zufällen mit Gesetzmäßigkeiten – neues Leben ebenfalls.
Die Welt neu denken
Mit diesem Titel eines Buchs und Theaterstücks der Transformationsforscherin Maja Göpel wird ein weit verbreitetes Unbehagen an unserer bisherigen, als erstrebenswert geltenden Lebensweise zum Ausdruck gebracht. Jeder Mensch ist ein Künstler, beobachtete Joseph Beuys. Jeder Mensch besitzt schöpferisches Potential, um seine Umgebung zu gestalten. Was ist also aktueller, um die Herausforderungen der Gegenwart zu meistern, als sich unmittelbar mit den Grundlagen und unendlich vielfältigen Funktionsweisen kreativer Prozesse im Zeitalter der künstlichen Intelligenz zu beschäftigen, sie zu verstehen, sie selbstbestimmt und individuell umzusetzen?
Das Orakel von Delphi
Erkenne dich selbst! Waren Ausgangspunkt und Aufforderung der Antike, den richtigen Weg in die Zukunft zu finden. Heute würde man sagen: Werde kreativ! Vorstellungskraft und konkrete Zukunftsgestaltung beschränken sich nicht nur auf künstlerische Techniken, sondern sie stellen konstruktive Methoden der allgemeinen Lebensgestaltung dar. Erst im aleatorischen Spiel mit dem Zufall des Lebens und dessen Deutung öffnen sich sinnstiftende Räume für nachhaltigere Lebensweisen zur Gestaltung einer lebenswerten Welt.
Anmerkung: Diese Ausstellung war vom 12. Dezember 2021 bis 09. Januar 202 im Künstlerforum Bonn zu sehen.